Stadt und Vielfalt – eine virtuelle Diskussionsrunde

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Abstract

Im Rahmen unseres Projekts „Diversität, Teilhabe und Zusammenhalt in der Kommune“ haben wir am 8. Juli 2020 mit Laura Dobusch und Simon Güntner zwei Expert*innen eingeladen, über Diversität und Teilhabe in der Stadt zu diskutieren. Im Mittelpunkt der virtuellen Diskussion standen drei Themenfelder: (1) Diversität und Teilhabe in Städten während der Corona-Krise, (2) die Frage, wie eine vielfaltsgerechte Teilhabe in Städten erreicht werden kann und (3) welche Rolle dabei Wissenschaft und Forschung spielen. Die Diskussion fand virtuell statt: Diskutant*innen und Moderator*innen „trafen sich“ in einem Online-Pad, wo die Diskussion schriftlich geführt wurde.

Einstieg und Vorstellung der Expert*innen

Doreen Müller: Herzlich willkommen!

Elena Buck: Wunderbar, dass Sie sich die Zeit genommen haben für den Austausch – und wir freuen uns über Ihre Bereitschaft zu diesem auch für uns eher experimentellen Format!

Simon Güntner: Guten Tag zusammen.

Laura Dobusch: Schönen Nachmittag!

Elena Buck: Wie gesagt, wir freuen uns, dass Sie da sind und heute mit uns über Diversität und Stadt diskutieren wollen. Unser Projekt beschäftigt sich ja mit Vielfalt und Teilhabe in der Kommune. Ich fände es schön, wenn Sie beide sich kurz vorstellen könnten (einander und unseren Leser*innen) und dabei vielleicht noch darauf Bezug nähmen, wie Sie und Ihre Expertise mit diesen Themen in Verbindung stehen.

Simon Güntner: Mein Name ist Simon Güntner, ich bin derzeit Professor für Raumsoziologie an der TU Wien, zudem Mitglied im Netzwerk MigrationWork CIC, das v.a. Kommunen in Diversitätsfragen berät. Für einige Jahre habe ich für das Städtenetzwerk EUROCITIES Arbeitsgruppen zu Fragen der Migration und Asylpolitik koordiniert. Somit bringe ich eine analytische Perspektive und einen – ausschnitthaften – Einblick in die kommunale Praxis mit.

Laura Dobusch: Ich bin Laura Dobusch und momentan Assistant Professor für Gender & Diversity an der Radboud University in den Niederlanden. Ich beschäftige mich vor allem aus organisationssoziologischer Perspektive mit Fragen der Diversität, Ungleichheit und Teilhabe bzw. Inklusion. Im Rahmen meiner Dissertation habe ich auch Stadtverwaltungen und Universitäten untersucht. Dabei ging es u.a. darum, welche Formen von Vielfalt diese als erwünscht bzw. unerwünscht ansehen und mit dementsprechenden Maßnahmen zu adressieren versuchen.

Doreen Müller: Vielen Dank für die Einblicke in Ihre verschiedenen Hintergründe!

Die Corona-Krise, Teilhabe und Vielfalt in der Stadt

Elena Buck: Auch von mir Danke für die Vorstellungen! Ich steige mit unserer ersten Frage ein: Als wir letztes Jahr am Rande unseres Fachtags einige Teilnehmende gefragt haben, was für sie eine Stadt lebenswert macht, spielte der öffentliche Raum in ihren Antworten eine große Rolle. Die Stadt als Ort für Begegnungen, als Ort, an dem sich eine Vielfalt von Lebensweisen erleben lässt: das ist ja durch die Maßnahmen im Umgang mit der Covid-19-Pandemie empfindlich eingeschränkt worden. Wie hat sich aus Ihrer Sicht das Verhältnis von Vielfalt und Teilhabe in der Stadt unter dem Einfluss der Corona-Krise verändert? Was ist vielleicht sichtbarer geworden, was zuvor schon da war? Und was sind die Herausforderungen für einen künftigen Umgang mit Diversität und Teilhabe in der Stadt?

Die Bedeutung des öffentlichen Raums wurde meines Erachtens im Alltag deutlich sichtbar, und dieser als wichtiges Gut stärker wahrgenommen.

Simon Güntner

Simon Güntner: Die Bedeutung des öffentlichen Raums wurde meines Erachtens im Alltag deutlich sichtbar, und dieser als wichtiges Gut stärker wahrgenommen. Darin besteht eine Chance: Die Sehnsucht, wieder hinauszugehen, war enorm und hat sich zumindest in den öffentlichen Orten in Wien in einer sehr intensiven Nutzung direkt nach der Lockerung geäußert. Zum Verhältnis von Vielfalt und Teilhabe: Dies zeigte sich in erster Linie im privaten Raum. Dort gab es sehr unterschiedliche Erfahrungen: beengte Wohnverhältnisse, Stress bis hin zu Gewalt einerseits, Raum für Kreativität, aber auch Langeweile andererseits.

Ich würde sagen, dass sich durch die Corona-Krise auch eine gewisse Janusköpfigkeit des öffentlichen Raums und öffentlicher Einrichtungen gezeigt hat.

Laura Dobusch

Laura Dobusch: Ich würde sagen, dass sich durch die Corona-Krise auch eine gewisse Janusköpfigkeit des öffentlichen Raums und öffentlicher Einrichtungen gezeigt hat. Was ich damit meine ist, dass gemeinhin öffentliche Einrichtungen wie Schulen oder öffentliche Spiel- und Sportplätze eine Ausgleichsfunktion haben, die dem „Schicksal der Geburt“ und damit einhergehenden sozialen Ungleichheiten entgegenwirken können. Nun ist es aber so, dass in Zeiten der Corona-Krise öffentliche Infrastruktur zum Gefahrenort wird, der von jenen gemieden wird, die es sich leisten können, z.B. aufgrund von Auto oder eigenem Garten. Ich würde daher sagen, dass auch die Gefahr besteht, dass sich Gräben zwischen sozioökonomischen Gruppen weiter vertiefen, zwischen jenen, die auf öffentliche Infrastruktur angewiesen sind und jenen, die sich quasi eine private „Parallelinfrastruktur“ schaffen können.

Simon Güntner: Dem stimme ich zu. Die Frage ist nun, wie der öffentliche Raum (In- und Outdoor) so gestaltet werden kann, dass er trotz physischer Distanz seine Funktion aufrechterhalten kann. Ein Beispiel aus Wien: In manchen ganztägigen Grundschulen wurden die Eltern nachdrücklich aufgefordert, ihre Kinder zuhause zu betreuen bzw. zu beschulen. Es wurde vorausgesetzt, dass das geht, obwohl die Voraussetzung für den Schulbesuch eigentlich ist, dass beide Elternteile arbeiten. Als die Schule stundenweise wieder zu Unterricht und Betreuung öffneten, haben dennoch viele versucht, ihre Kinder so lange wie möglich zuhause zu lassen, und nur wenige das schulische Betreuungsangebot wahrgenommen. Im Ergebnis stehen nun sehr unterschiedliche Erfahrungen und vermutlich auch Lernstände der Kids.

Laura Dobusch: Ja, ich denke, hier sind wir bei der Frage, inwiefern sich die Corona-Krise auf Teilhabe- und letztlich Lebenschancen auswirkt. Und was wir auf jeden Fall sehen können, ist, dass sich vorhandene Ungleichheiten verschärfen, weil die Ausgleichsfunktion öffentlicher, kommunaler Infrastruktur wegfällt. Das Auffällige an der Corona-Krise ist wohl, dass Immobilität zum Privileg wird, dass jene, die sich aussuchen können, ob sie das Haus verlassen oder nicht, leichter ihre physische und psychische Gesundheit erhalten können.

zunehmende Digitalisierung und Teilhabe in der Corona-Krise

Digitale Teilhabe war bislang nicht im Zentrum von Smart-City-Strategien, wird es aber unweigerlich werden.

Simon Güntner

Simon Güntner: Eine wichtige Debatte betrifft nun, nicht nur im Zusammenhang mit Home Schooling, die digitale Infrastruktur. Wie kann diese als öffentliche Infrastruktur bereitgestellt werden? Bislang läuft das im Wesentlichen a) individuell und b) privat. Hat die Kommune eine Verantwortung, Zugänge kostenfrei zu ermöglichen? Digitale Teilhabe war bislang nicht im Zentrum von Smart-City-Strategien, wird es aber unweigerlich werden.

Laura Dobusch: Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt. Vor allem, weil durch die Corona-Krise sichtbar wird, was eigentlich jetzt schon im Sinne von digitaler Teilhabe möglich ist bzw. generell möglich sein könnte. Vor allem Menschen mit Behinderungen sehen sich jetzt mit der Situation konfrontiert, dass jahrzehntelange Forderungen nach Home-Office oder asynchronen Arbeitszeiten und Online-Meetings plötzlich umgesetzt werden. Also ich denke, es verschärfen sich nicht nur Ungleichheiten, sondern es werden auch Teilhabechancen sichtbar, vor allem im digitalen Bereich.

Simon Güntner: Es wird deutlich und selbstverständlich, dass physische Räume/Institutionen eine virtuelle Erweiterung haben (müssen). Schulen, um beim Beispiel zu bleiben, müssen auch virtuell zugänglich sein. Die Kompetenz und Akzeptanz ist hier noch begrenzt, zugleich hat der Digitalisierungsschub hier enorm schnell enorm vieles bewegt, allerdings eben auf Basis privater Infrastrukturen und individuellen Engagements. Dies sollte nun systematisch koordiniert und mit klaren Perspektiven verfolgt werden. Sie sprechen noch das Home-Office an. Die selbstverständliche Nutzung der Wohnungen als Arbeitsplätze ist in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Die Trennung von Wohnen und Arbeiten war ein wichtiger Erfolg der Moderne. Mit der Entgrenzung der Arbeit steht im Raum, dass sich Wohnanteile reduzieren bzw. individuell zuhause „erkämpft“ werden müssen. Wir haben in Umfragen mit Studierenden gesehen, dass strukturelle räumliche Trennungen durch persönliche zeitliche Strukturierung selbstdisziplinierend ersetzt werden.

Es braucht eine Optionenvielfalt, nur so kann die Teilhabe unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnis- und Interessenlagen ermöglicht werden.

Laura Dobusch

Laura Dobusch: Danke für den Einwand bezüglich Home-Office, Ihre grundsätzliche Einschätzung teile ich. Auch vor dem Hintergrund, dass es nicht sein kann, dass Arbeitnehmer_innen nun ihre eigenen Arbeitsplätze bereitstellen und finanzieren sollen. Aber ich habe mich im Speziellen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen bezogen, für die in bestimmten Situationen Home-Office tatsächlich ein sehr guter Weg sein kann, um am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben. Ich denke, auch in Bezug auf digitales Angebot, was die Schule betrifft, dass die Faustregel sein sollte, dass es immer um eine Gleichzeitigkeit mehrerer „Teilhabekanäle“ geht. Nur Home-Office ist genauso ein Problem wie die ausschließlich digitale Schule. Es braucht eine Optionenvielfalt, nur so kann die Teilhabe unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnis- und Interessenlagen ermöglicht werden.

Schritte zu vielfaltsgerechter Teilhabe in Stadtgesellschaft, stadtverwaltung und Stadtpolitik

Doreen Müller: Die Corona-Krise macht sehr deutlich sichtbar: Städte waren zwar schon immer durch soziale Diversität gekennzeichnet – nicht jedoch durch gleichberechtigte Teilhabe. Was wären aus Ihrer Sicht wichtige Schritte hin zu einer vielfaltsgerechten Teilhabe in Stadtgesellschaft, Stadtverwaltung und Stadtpolitik? Sie haben nun schon einige Beispiele dafür genannt…

Simon Güntner: Puh, ich muss einen kurzen Moment nachdenken.

Laura Dobusch: Dann fange ich mal an. Ich denke für die Stadtpolitik gilt in größerem Stil, was ich für den Umgang mit Unterschieden in Organisationen formulieren würde: es braucht stets eine Doppelstrategie. Zum einen müssen die Bedürfnis- und Interessenlagen der einzelnen Organisationsmitglieder erfasst und in organisationaler Infrastruktur widergespiegelt werden, zum anderen braucht es ein Wissen und eine Selbstverpflichtung dazu, welche „Inklusions-Bringschuld“ die jeweilige Organisation überhaupt hat. Das heißt, eine ausschließliche Orientierung an jenen, die es bereits in die Organisation geschafft haben, reicht nicht, um vielfaltsgerechte Teilhabe zu realisieren. Es braucht auch ein Wissen gepaart mit struktureller Verantwortung dahingehend, inwiefern soziale Unterschiede, die in einem bestimmten Kontext als relevant betrachtet werden, auch innerhalb der Organisation abgebildet werden sollen. Auf eine Stadt trifft das natürlich in noch größerem Ausmaß zu, besteht hier doch der Anspruch, soziale Kohäsion und Gemeinschaft herzustellen und zu erhalten.

Simon Güntner: Ich schließe hier mal an. Im Wesentlichen ist dies aus meiner Sicht eine Frage der Haltung. Das mag allgemein klingen, ist aber eine wichtige politische Herausforderung. Partizipation beispielsweise wird dann gelingen, wenn sie als selbstverständlich angesehen wird. Entweder, weil die Mitarbeitenden in Verwaltungen das so gelernt haben und als wichtige Grundlage ihrer Arbeit ansehen, und/oder, weil sie es müssen. Ein Beispiel, das auf den ersten Blick überraschen mag, aber zeigt, wie sich Haltungen über Zeit ändern und etablieren: New Public Management war vor seiner Einführung undenkbar in einer bürokratischen Verwaltungstradition. Es kam, sah und siegte und bestimmt seither die Haltung/Einstellung der leitenden Etagen, ihre Sprache, ihre Anweisungen. Meines Erachtens gibt es seit Jahren Anzeichen für deutliche Kritik und die Suche nach Alternativen, die sich jedoch noch nicht durchsetzen, sondern erst beginnen zu sortieren und zu artikulieren. International denke ich da an den sog. „neuen Munizipalismus“ wie er z.B. in Barcelona von Ada Colau und Barcelona en Comú und vom Netzwerk der sog. „Fearless Cities“ vertreten wird, und die Forderung nach einer Demokratisierung der öffentlichen Institutionen.

Doreen Müller: New Public Management (NPM) ist aber auch Teil eines gesamtgesellschaftlichen Trends der Ökonomisierung/Verbetriebswirtschaftlichung. Würden Sie sagen, dass auch eine Perspektive auf Diversität als Teilhabe einen solchen größeren Trend darstellt, der in z.B. Stadtverwaltungen wirksam werden kann?

Simon Güntner: Ich wollte unterstreichen, dass man aus der Durchsetzung von Leitbildern lernen kann. Ich denke auch, lasse mich da aber gerne korrigieren, dass z.B. die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) große Fortschritte bewirkt hat und die Situation heute in vielen zumindest europäischen Städten deutlich besser ist. Das kam sowohl top-down als auch durch inzwischen alltäglich gewordene Forderungen (z.B. nach Barrierefreiheit), die sich verselbständigen. Wenn z.B. in Kindergärten (ich habe ein Beispiel in Hamburg vor Augen) Kinderrechte mit den Kindern schon explizit diskutiert werden und die Kinder bei Dingen wie dem Essensplan und dem Programm mitreden können, ist schon ein guter Weg deutlich.

Aus organisationssoziologischer Sicht würde ich sagen, alles beginnt mit formalisierten Praktiken und Routinen – am besten niedergeschrieben – die sich mit den eigentlichen Zielen einer Organisation wie etwa einer Stadtverwaltung vereinbaren lassen.

Laura Dobusch

Laura Dobusch: Ich würde zustimmen, dass es auf jeden Fall ein politisches Bekenntnis zur und Anerkennung einer vielfältigen Stadtbevölkerung braucht. Gleichzeitig würde ich widersprechen, dass alles bei der Haltung beginnt. Aus organisationssoziologischer Sicht würde ich sagen, alles beginnt mit formalisierten Praktiken und Routinen – am besten niedergeschrieben – die sich mit den eigentlichen Zielen einer Organisation wie etwa einer Stadtverwaltung vereinbaren lassen. NPM war ja unter anderem auch so erfolgreich, weil es sehr komplexe Fragen in messbare Zielgrößen komprimiert hat und somit für Organisationen, seien es Universitäten oder Schulen, als „bearbeitbar“ erschien. Ich denke, es braucht daher auch „bearbeitbare“ Vorstellungen davon, was Teilhabe, was ein gutes Leben für eine vielfältige, durch Ungleichheiten gezeichnete Bevölkerung bedeuten kann. Und ich denke, hier ist es wichtig, gleichberechtigte Teilhabe nicht mit Harmonie zu verwechseln.

Simon Güntner: Danke für den Hinweis. Ich habe die Haltung betont, da sie so voraussetzungsvoll ist, und wollte den Blick auch z.B. auf die Ausbildung von Verwaltungsfachkräften lenken. Konflikte gehören zur Vielfalt, und auch hier ist es m.E. wichtig, dass Fachkräfte in die Lage versetzt werden, Konflikte anzugehen und nicht umgehen zu müssen. Ich habe also die Verwaltungskultur im Blick. Ich würde aber gerne noch auf den Begriff der „Stadt“ in diesem Zusammenhang eingehen. Wenn wir hier mal die öffentliche Hand bzw. die Stadtverwaltung und ihre Netzwerke betrachten, nehme ich wahr, dass sehr oft Ressortlogiken wichtiger sind als das gemeinsame Ganze. Seltener sind Politiker*innen, die sich als Stadtpolitiker*innen verstehen, sondern oft kommt zunächst das eigene „Haus“. Querschnittsthemen wie Diversität bzw. Themen, die zu Querschnittsthemen gemacht werden, werden je nach Sektor unterschiedlich betrachtet und können durchs Raster fallen. Insofern schließe ich das Interesse an der Stadt bzw. dem Gemeinwesen ein in die Betonung der Haltung. Und hier könnte ja in der Tat eine neue Aufmerksamkeit entstanden sein, denn die Pandemie hat deutlich aufgezeigt, wie die verschiedenen Politikbereiche im Alltag zusammenspielen oder auch nicht.

Laura Dobusch: Ich teile Ihre Einschätzung über die zersplitterte Interessenpolitik in der Stadtverwaltung. Das hat sich auch im Zuge meiner Untersuchung zu städtischen Diversitätspolitiken gezeigt. Zu einem gewissen Grad gibt es hier sicher Möglichkeiten, eine kohärentere Koordinierung anzustreben. Gleichzeitig schwingt dabei immer eine Art „Endpunkt“-Vorstellung mit, bei der davon ausgegangen wird, dass, wenn endlich mal alle „on the same page“ sind, dann auch die fundamentalen Änderungen angegangen werden können. Ich halte eine solche Vorstellung nicht nur für unrealistisch, sondern auch für problematisch. Ich denke, es wäre wichtiger, formalisierte, relativ unabhängige Strukturen zu etablieren, die wiederum die Organisation, die Stadtverwaltung in dem Falle, auf ihre widersprüchlichen Politiken beobachten, hinterfragen und gegebenenfalls Anpassungsvorschläge machen können – im Sinne einer immer wiederkehrenden Feedbackschleife, die jedoch nicht zum Ende kommt und damit stets Diskurs und Dissens zulässt.

Simon Güntner: Ich versuche mal zu erläutern, was ich meinte. Beispiel 1: Bevor eine neue EU-Kommission eingesetzt wird, befragt das EU-Parlament die Kandidat*innen ausführlich. Was spricht dagegen, die politischen Spitzen von Fachverwaltungen regelmäßig auf ihren Beitrag zum Gemeinwohl hin zu befragen und diesen einzufordern, über Koalitionsvereinbarungen hinaus? Beispiel 2: In Schwäbisch Gmünd, wo wir eine kleine Studie zur Quartiersentwicklung durchgeführt haben, werden in einigen Einrichtungen wie z.B. Schulen in die Stellenbeschreibungen der Leitungskräfte Anteile zur Beteiligung an Netzwerken etc. hineingeschrieben, d.h. es wird explizit von der Leitung eingefordert, über den Tellerrand zu schauen. Das hat sehr schnell sehr gute Ergebnisse gebracht, jenseits einer naiven Harmonievorstellung.

Laura Dobusch: Danke für die Beispiele, die, wie ich finde, in die richtige Richtung gehen. Ich wollte nur betonen, angeleitet durch mein persönliches, normatives Diversitätsverständnis, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Diversitätspolitik gibt und, dass es keine „Auflösung“ dieser unterschiedlichen Vorstellungen geben kann/soll, sondern deren permanenter Austausch, deren permanente Reibung ermöglicht werden sollte. Natürlich sollte das in einem bestimmten Rahmen, der mittels organisationaler Regeln hergestellt werden muss (z.B. Mitgliedschaft, Statuten, Konfliktschlichtungsstellen), stattfinden.

Differenz ist ja ein bestimmendes Merkmal von Urbanität. Aber wer entscheidet darüber, welche Differenzen wahrgenommen, betont, und auch sprachfähig sind?

Simon Güntner

Simon Güntner: Differenz ist ja ein bestimmendes Merkmal von Urbanität. Aber wer entscheidet darüber, welche Differenzen wahrgenommen, betont, und auch sprachfähig sind? Insofern ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur diversitätssensiblen Stadt die Verteilung bzw. Gewährung von Sprecher*innenpositionen, nicht zuletzt auch beim aktiven und passiven Wahlrecht.  Beeindruckend finde ich die „Black Lives Matter“ (BLM)-Demonstrationen, die überwiegend auch von Schüler*innen organisiert wurden und dahingehend Hoffnung machen, dass lange unterdrückte Positionen artikuliert werden wollen und können.

Laura Dobusch: Ganz wichtiger Punkt! Ich würde noch ergänzen, dass es nicht nur um die Sprecher*innenpositionen geht, sondern aus stadtpolitischer Sicht – und da kommen wir zum Beginn des Gesprächs – um die Bereitstellung einer städtischen Infrastruktur, die gezielt vorhandene Ungleichheiten ausgleichen kann, auch im Hinblick auf jene Gruppen, die gemeinhin vielleicht als „unerwünschte Diversität“ gesehen werden.

Wie kann Wissenschaft diversitätsgerechte Stadtentwicklung unterstützen?

Elena Buck: Mit Blick auf die Zeit würden wir uns gern dem dritten Fragenblock zuwenden, der aber vielleicht auch ganz gut anschließt. Sie beide sind Forscher*innen mit einem Einblick in die Welt der Kommunen – und engagierte Bürger*innen. Das wird gerade in Ihren Ausführungen zu der letzten Frage auch sehr deutlich: der analytische Blick „von außen“ auf die Verwaltungsstrukturen und die eigene Haltung. Wie kann aus Ihrer Sicht wissenschaftliche Forschung eine diversitätsgerechte Stadtentwicklung unterstützen?

Simon Güntner: Ein Punkt, der mir im Anschluss an das Genannte sofort in den Sinn kommt, ist unsere Verantwortung als Lehrende. Die Themen, die wir setzen, die Sprache, die wir nutzen, in der wir mit zukünftigen Fachkräften kommunizieren. Die Art und Weise, wie wir mit Konflikten umgehen etc.

Laura Dobusch: Das finde ich einen sehr, sehr schönen Punkt. Ich denke auch, dass es zuallererst darum gehen muss, den eigenen Handlungsspielraum – den oftmals in erster Linie die Lehre darstellt – diversitätssensibel und inklusionsfördernd zu gestalten, soweit das der eigene Bias und die jeweiligen (fachlichen) Unzulänglichkeiten zulassen.

Hier ist zentral, dass wir Wissensproduktion als gemeinsames Projekt ansehen und es nicht darum geht, jemandem etwas dozierend „einzutrichtern“. Vielfalt drückt sich ja auch in der Vielfalt an Perspektiven auf Themen aus.

Simon Güntner

Simon Güntner: Mit Blick auf die Forschung möchte ich Ansätze wie Aktionsforschung und Ko-Kreation betonen. Mit diesen Ansätzen kann eng mit sogenannten „Praxis“-Partner*innen kommuniziert werden und diese können dabei unterstützt werden, sich als lernende Organisationen zu definieren. Hier ist zentral, dass wir Wissensproduktion als gemeinsames Projekt ansehen und es nicht darum geht, jemandem etwas dozierend „einzutrichtern“. Vielfalt drückt sich ja auch in der Vielfalt an Perspektiven auf Themen aus. Ich erlebe es immer als bereichernd, in Konstellationen zu arbeiten, in denen sich Menschen jenseits ihrer professionellen Rollen begegnen bzw. diese Rollen aus dem gemeinsamen Tun heraus reflektieren können. Wie wichtig dieser Reflexionsraum ist, zeigt sich auch in einer zunehmenden Akzeptanz von und Nachfrage nach Methoden wie Coaching und Supervision. 

Darüber hinaus denke ich auch, dass es immer noch eine sehr wichtige Funktion von Wissenschaft bzw. Forschung ist, Raum für Beobachtung bzw. Verarbeitung zu schaffen.

Laura Dobusch

Laura Dobusch: Auch diesen Punkt teile ich. Ich bin mit „Tipps“ generell sehr zurückhaltend, da ich sehr stark wahrnehme, dass wissenschaftliche Wissensproduktion anderen Logiken folgt als etwa politische Praxis und ein Transfer wissenschaftlichen Wissens daher nicht so einfach gelingt bzw. auch gar nicht möglich ist. Darüber hinaus denke ich auch, dass es immer noch eine sehr wichtige Funktion von Wissenschaft bzw. Forschung ist, Raum für Beobachtung bzw. Verarbeitung zu schaffen. Zum Beispiel ist es im Zuge der Pandemie eine Kernaufgabe der Wissenschaft, die Auswirkungen unterschiedlicher Formen des Krisenmanagements auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen schlicht zu dokumentieren.

Simon Güntner: Oh ja! Es ist eine Falle in transdisziplinären Projekten, die eigenen Positionen zu schnell hinter sich zu lassen, allzu schnell kann es dann oberflächlich werden. Formate wie „Living Labs“ und „Reallabore“ beispielsweise, die in kurzer Zeit Lösungen für komplexe Sachverhalte suchen, sind schon in ihrer Begrifflichkeit ambivalent und bergen durchaus auch das Risiko positivistischer Kurz- und Schnellschlüsse. Ich habe mich sehr gefreut, als neulich eine Ausschreibung eines Forschungsförderprogramms explizit darum gebeten hat, „quick fixes“, also vereinfachende kurzsichtige Handlungsvorschläge, zu vermeiden.  

Noch ein Aspekt zum Blick auf die Verwaltungsstrukturen. In den letzten Jahren hat eine kleine Nische in der Sozial-/Politikwissenschaft, die sich mit sog. „Street Level Bureaucracy“ beschäftigt, viele spannende und wichtige Ergebnisse erbracht. Dort geht es um den Alltag in öffentlichen Einrichtungen. Betrachtet werden weniger die Strukturen und Organisationen als die individuellen in Verwaltungen arbeitenden Personen, ihr Handeln und ihre Ermessensspielräume. Es wird gezeigt, wie weitreichend diese z.B. in alltagsrelevanten sozialen Diensten oft sind. Diese Ermessensspielräume werden aufgrund individueller Moralvorstellungen und subjektiver Situationsdeutungen genutzt (oder auch nicht), was uns wieder zur Frage der Haltung bringt.

Doreen Müller: Mit Blick auf die Zeit würden wir gern langsam zum Ende kommen. Ganz herzlichen Dank für die sehr dynamische und spannende Diskussion! Hier stecken aus unserer Sicht noch viele Aspekte drin, die es lohnen würde, zu vertiefen.

Simon Güntner: Vielen Dank auch von meiner Seite.

Laura Dobusch: Ich danke für die Einladung!

Elena Buck: Vielen Dank! Und einen schönen Nachmittag allen!

Reflexion zum virtuellen Diskussionsformat

Im Nachklapp haben wir die beiden Diskutant*innen um Feedback zu dem Format der virtuellen Diskussion – in einem Online-Pad zu einem gemeinsamen Termin – gebeten. Dabei zeigte sich, dass das Format einerseits als spannend und aus diversitätssensibler Sicht interessant eingeschätzt wird, weil es andere Anforderungen stellt als eine Diskussionsrunde in Präsenz. Gleichzeitig sind schnelle Reaktion und auch schnelles Schreiben gefordert, was als voraussetzungsvoll wahrgenommen wird. Alternativ bieten sich moderierte Debatten per E-Mail an, die den Zeitdruck reduzieren, aber eventuell auch die Spontaneität der Beiträge verringern würden.

Über die Autor*innen

Als Expert*innen nahmen an der virtuellen Diskussion Dr. Laura Dobusch, Assistant Professor of Gender and Diversity an der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande, und Prof. Dr. Simon Güntner, Universitätsprofessor und Leiter des Forschungsbereichs Soziologie an der TU Wien, teil. Das Gespräch moderierten Elena Buck, Diplom-Politologin und wissenschaftliche Koordinatorin am Institut für Diversitätsforschung, und Dr. Doreen Müller, wissenschaftliche Koordinatorin am Institut für Diversitätsforschung und Co-Leiterin des Projekts „Diversität, Teilhabe und Zusammenhalt in der Kommune“.

Zitiervorschlag: Elena Buck/Doreen Müller (2020): Virtuelle Diskussionsrunde zu Vielfalt und Teilhabe in der Stadt. Interview mit Laura Dobusch und Simon Güntner am 8. Juli 2020, in: Diversität, Teilhabe und Zusammenhalt in der Kommune (Weblog), online: http://vielfalt-kommunal.uni-goettingen.de/index.php/2020/08/28/virtuelle-diskussionsrunde-zu-stadt-und-vielfalt/.

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