Anlässlich des Fachtags am 20. September haben wir – Astrid Biele Mefebue, Elena Buck und Doreen Müller – in einem Kurzvortrag skizziert, warum wir im Rahmen dieses Projekts Diversität und Teilhabe zusammen denken wollen.
„Wir brauchen Städte für Menschen“, so schloss der Geschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, seine Rede auf der diesjährigen Hauptversammlung des Städtetags. Und er wies auch darauf hin: Menschen haben unterschiedliche Lebenssituationen und unterschiedliche Interessen, die nicht immer miteinander in Einklang zu bringen sind. Bei der Lösung der daraus entstehenden Konflikte gehe es auch um die Frage: „Wem gehört die Stadt?“ Und die Antwort Dedys lautet „Die Stadt gehört allen, die dort leben.“ (Link zum Beitrag)
Wir würden hinzufügen: Menschen befinden sich nicht nur in unterschiedlichen Lebenssituationen und haben unterschiedliche Interessen, sie verfügen auch über unterschiedliche Ressourcen, haben unterschiedliche Lebensentwürfe und die Stadt bietet ihnen unterschiedliche Verwirklichungschancen. Wie also können Städte diesen Anspruch einlösen – Städte für Menschen zu sein?
Aus unserer Sicht ist es notwendig, die Vielfalt der Bewohner_innen nicht nur als Buntheit und als produktive Ressource anzuerkennen, sondern auch soziale Ungleichheiten zu thematisieren, die entlang verschiedener Ungleichheitsdimensionen verlaufen.
Wie ist Diversität in so einer Perspektive zu verstehen?
Relevant für uns als Sozialwissenschaftler_innen sind spezifische Ausprägungen von Diversität. Wir interessieren uns für soziale Kategorisierungen, mit deren Hilfe Menschen in dominante und marginalisierte Gruppen differenziert werden. Dies wird entlang verschiedener Ungleichheitsdimensionen sichtbar, wie bspw. Geschlecht, soziale Herkunft, Alter, Religion, Ethnizität und körperliche Konstitution. Es gibt eine umfangreiche Debatte darum, welche denn nun die relevanten Kategorien sind. Dies kann aus unserer Sicht nicht global, sondern immer nur in dem jeweiligen Kontext bestimmt werden.
Mit den Kategorisierungen sind unterschiedliche Chancen und Handlungsspielräume verbunden – entlang der Kategorisierungen werden also Benachteiligungen und Privilegierungen sichtbar, die Ausdruck sozialer Ungleichheit sind. Soziale Ungleichheit meint damit, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen regelmäßig über schlechtere Lebens- und Verwirklichungschancen verfügen (vgl. Hradil 2001).
In dieser Sicht auf Diversität sind drei Aspekte besonders wichtig:
- Erstens interessieren hier nicht alle möglichen Unterscheidungen, sondern diejenigen, entlang derer sich soziale Ungleichheiten zeigen.
- Zweitens sind mit diesen Dimensionen nicht tatsächliche „Merkmale“ oder „Eigenschaften“ von Menschen oder Gruppen gemeint, sondern Zuschreibungen von Eigenschaften, die als positiv oder negativ bewertet werden. Wir betrachten die Kategorien also als sozial konstruiert. Das bedeutet aber nicht, dass wir die reale Bedeutung dieser Kategorien relativieren wollen.
- Und drittens halten wir es für notwendig, eine intersektionale Perspektive einzunehmen, also verschiedene Kategorisierungen in ihrem Zusammenspiel und auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten, um soziale Ungleichheiten in ihrer Komplexität erfassen zu können.
Das alles heißt für uns auch, dass mit der Anerkennung von Vielfalt und von Unterschieden nicht die Anerkennung von sozialen Ungleichheiten gemeint ist.
Als Forschende versuchen wir also, soziale Ungleichheiten in ihrer Verknüpfung mit Diversität sichtbar zu machen. Doch nicht zuletzt durch die Praxisbrille betrachtet stellt sich die Frage, was wir mit all dem Wissen um Ungleichheiten tun können? Konzeptionen von Teilhabe bieten aus unserer Sicht hier eine Ziel- und Handlungsperspektive, die Praxis auch auf kommunaler Ebene leiten kann. Der Begriff der Teilhabe wird sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der (kommunalen) Praxis vielfach verwendet. Er bleibt aber insbesondere in den Praxisbezügen oft unbestimmt und wird außerdem kaum systematisch zu Diversität in Bezug gesetzt.
Teilhabe
Wenn wir von Teilhabe sprechen, beziehen wir uns auf das Konzept des indischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Amartya Sen. Im Zentrum der Diskussion um soziale Teilhabe steht mit Sen die Chance auf die Realisierung verschiedener Aktivitäten, „Daseinsformen“ oder auch Lebensstile. Dabei bedeutet tatsächliche Teilhabe, dass Individuen die Freiheit besitzen, sich selbst für oder gegen konkrete Aktivitäten oder Lebensstile zu entscheiden (vgl. Sen 1992). Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung beschreibt Verwirklichungschancen ebenfalls in Anknüpfung an Sen als „Möglichkeiten oder umfassende Fähigkeiten (‚capabilities‘) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (Bundesregierung 2005: 9). In einem weiten Verständnis bedeutet Teilhabe, dass wir gesellschaftliche Handlungsspielräume für die individuelle Gestaltung unseres Lebens nutzen. Unser individuelles Wohlempfinden ist umso größer, je größer die Zahl der Optionen, unter denen wir bei der Gestaltung unseres Lebens wählen können. Und damit sind Optionen gemeint, für die wir realistische Verwirklichungschancen haben.
Die Gesellschaft stellt uns verschiedene Ressourcen zur Verfügung, wie zum Beispiel Konsumgüter, Dienstleistungen oder soziale Rechte. Soziale und individuelle Faktoren begünstigen, erschweren oder verhindern, ob und wie wir diese Ressourcen nutzen können – und damit welche Möglichkeiten der Lebensgestaltung uns offenstehen. Dabei bezieht sich Teilhabe auf unterschiedliche Bereiche des Lebens und umfasst politische, soziale und kulturelle Teilhabe: Es geht um die gegenseitige Übernahme von Verantwortung und Zugehörigkeit in unserem nahen sozialen Umfeld, also in der Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis. Es geht um soziale Rechte, wie etwa soziale Sicherungsansprüche, und um die Teilhabe an Bildung und Kultur, die unserer Persönlichkeitsentwicklung dient und uns in der Gesellschaft und in unserem sozialen Umfeld handlungsfähig macht. Es geht um die Einbindung ins Erwerbsleben, über die wir unsere materielle Existenz sichern, aber auch in Kontakt zu unserer Umwelt treten. Und es geht um die Beteiligung an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Bartelheimer 2007).
Mit dem Teilhabeansatz ist also die Vorstellung verbunden, dass Menschen in ihrer Entscheidung für oder gegen bestimmte Aktivitäten oder auch Lebensentwürfe – etwa mit Blick auf Bildungsentscheidungen oder die Frage, wie und mit wem sie leben wollen – eine tatsächliche Wahl haben. Sie sollen dazu befähigt werden, diese Wahl aufgrund ihrer eigenen Priorisierungen zu verfolgen.
Diversität und Teilhabe auf kommunaler Ebene
In einer diversitätsorientierten Perspektive bedeutet das: Wenn zum Beispiel auf kommunaler Ebene konkrete Dienstleistungen oder Möglichkeiten der Beteiligung entwickelt werden, ist zu hinterfragen, inwieweit Menschen mit verschiedenen individuellen Hintergründen oder Lebenssituationen diese Angebote nutzen können. Oder auch, inwieweit konkrete Angebote in der Art und Weise, wie sie angeboten werden, für sie Sinn ergeben. Eine solche Überprüfung kann zu dem Ergebnis führen, das beispielsweise ein konkretes Beratungsangebot genau so, wie es ist, sehr gut funktioniert! Sie kann aber auch zu dem Ergebnis führen, dass Hürden bestehen, die Personen an der Nutzung eines konkreten Beratungsangebotes hindern und die abgebaut werden müssen. Hindernisse können nicht nur, aber auch in Formen von Diskriminierung bestehen. Eine Überprüfung kann schließlich zu dem Ergebnis führen, dass Angebote ganz anders gestaltet werden müssen, um Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen und in unterschiedlichen Lebenssituationen „abzuholen“ und ihren Bedarfen gerecht zu werden. Blicken wir durch die Brille von Teilhabe und Diversität auf vorhandene Strukturen, können wir also z.B. fragen: Wo ermöglichen sie Teilhabe? Wo tragen sie dazu bei, bestehende Ungleichheiten zu reproduzieren?
Blicken wir durch die Brille von Teilhabe und Diversität auf vorhandene Strukturen, können wir also z.B. fragen: Wo ermöglichen sie Teilhabe? Wo tragen sie dazu bei, bestehende Ungleichheiten zu reproduzieren?
Ein solcher diversitätsorientierter Teilhabebegriff muss noch weiter theoretisch und auch praktisch ausbuchstabiert werden. Indem wir Diversität und Teilhabe zusammenbringen, können wir einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, wie eine Stadt für alle Menschen aussehen kann: Eine Stadt, die Menschen in ihrer Verschiedenheit ermöglicht, teilzuhaben. Damit unsere Städte Städte für Menschen werden.
Literatur
- Bartelheimer, Peter (2007): Politik der Teilhabe. Ein soziologischer Beipackzettel, in: Fachforum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nr. 1/2007, Berlin. (PDF)
- Bundesregierung (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin. (PDF)
- Dedy, Helmut (2019): Ein neuer Blick auf die Stadt. Rede anlässlich der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages am 6. Juni 2019 in Dortmund. (PDF)
- Hradil , Stefan (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland. 8. Auflage. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften.
- Sen, Amartya (1992): Inequality reexamined. Oxford: Oxford University Press.
Über die Autorinnen
Dr. Astrid Biele Mefebue ist Vertretungsprofessorin für die Soziologie der Diversität am Institut für Diversitätsforschung. Die Soziologin beschäftigt sich seit 2011 in Projekten, Evaluationen und Lehrveranstaltungen mit Fragen des Erlebens von und des Umgangs mit Diversität, Gleichheit und Differenz in Organisationen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Diversität und soziale Ungleichheit sowie Lebensentwürfe.
Elena Buck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Diversität, Teilhabe und Zusammenhalt in der Kommune“ und wissenschaftliche Koordinatorin am Institut für Diversitätsforschung. Sie interessiert sich insbesondere für Fragen von Diversität und Zugehörigkeit.
Dr. Doreen Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Diversitätsforschung und leitet gemeinsam mit Andrea D. Bührmann das Projekt „Diversität, Teilhabe und Zusammenhalt in der Kommune“. Sie hat in verschiedenen praxisorientierten Projekten geforscht und lehrt an unterschiedlichen Hochschulen unter anderem zu Migration, Migrationspolitik, Gender und Diversity.
Zitiervorschlag: Astrid Biele Mefebue/ Elena Buck/ Doreen Müller (2019): Diversität und Teilhabe zusammendenken, in: Diversität, Teilhabe und Zusammenhalt in der Kommune (Weblog), 4.11.2019, online: http://vielfalt-kommunal.uni-goettingen.de/index.php/2019/11/04/diversitaet-und-teilhabe-zusammendenken/